Deutsche Meisterschaft 2010

04. Oktober 2012

Alle Reiter(innen) mit Handicap waren sich einig: Diese Deutschen Meisterschaften waren etwas ganz Besonderes und sie waren super! Vom 09. bis 11. Juli 2010 fanden sie auf dem Gelände des RFZ Bochum-Nord zum insgesamt neunten Mal statt.

Trotz der extremsten Wetterbedingungen mit fast 40°C konnten die Reiter(innen) in vier verschiedenen Startklassen, die abhängig von der Schwere der Behinderung immer unterschiedliche Dressuraufgaben beinhalten, zeigen, zu welchen Leistungen Pferd und Reiter fähig sind.
Die Zuschauer beobachteten gebannt, wie z.B. Dr. Angelika Trabert mit ihrer Stute Ariva-Avanti Lektionen in Harmonie und mit viel Ausdruck zeigte. Viele sogenannte “normale Reiter” können so nicht reiten, hörte man allerorts.
Wo liegt nun der Unterschied?  Dr. Angelika Trabert kam ohne Beine und mit an einer Hand nur drei Fingern auf die Welt. Sie reitet und steuert ihr Pferd nur über ganz präzise Gewichts- und Zügelhilfen. Das hindert sie nicht, mit einem ausgebildeten Pferd Traversalen, fliegende Wechsel und sogar Galopppirouetten zu reiten. In einer anderen Startklasse reitet z.B. Bettina Eistel. Sie kam als Contergan-Kind ohne Arme auf die Welt. Für sie ist der Gebrauch ihrer Füße statt ihrer Hände etwas ganz Normales. So reitet Sie mit einer normalen Kandarenzäumung, wobei Sie die Trensenzügel mit den Zehen hält und den Kandarenzügel mit dem Mund. Nur wer selbst Reiter ist, kann ermessen, was für eine großartige Leistung es ist, eine Musikkür auf M-Niveau mit diesem Handicap zu reiten und dies so ausdrucksvoll, dass am Ende 78 % dabei rauskommen!

Alle Reiter(innen) haben unterschiedliche körperliche Behinderungen, die teilweise mit kompensatorischen Hilfsmittel, wie z.B. Spezialsätteln ausgeglichen werden können. Den allergrößtenten Teil gleichen allerdings die Pferde aus. Sie kompensieren fehlende Körperteile, Augen (es gibt auch erfolgreiche blinde Reiter, wie z.B. die Norwegerin Ann-Cecile Ore) und Lähmungen. Ganz oft sind es Pferde, die dem Druck des Regelsports nicht stand gehalten haben und die eine echte Aufgabe mit ihrem behinderten Reiter gefunden haben.

Und das braucht bei weitem nicht so viel Zeit wie man glauben könnte. Ein Beispiel ist Britta Näpel, die hier sehr erfolgreich mit Aquilina gestartet ist, einer 12-jährigen Zweibrücker Stute. Aquilina wurde Britta Näpel spontan zur Verfügung gestellt, nachdem ihr eigenes Pferd krankheitsbedingt ausfiel. Erst vor einer Woche hat Britta die Stute zum ersten Mal gesehen. Britta Näpel hat eine vergiftungsbedingte spastische Lähmung. Aquilina hat jedoch überhaupt kein Problem mit dieser Einschränkung und somit hat das Paar innerhalb einer Woche zu einer wirklich tollen Harmonie gefunden, die sie hier schon eindrucksvoll unter Beweis stellen konnten.

Es ist ein großer Schritt in die richtige Richtung für die Reiter mit Handicap, sowie für alle, die sich in diesem Sport verantwortlich zeichnen. Die Deutsche Meisterschaft in den Mittelpunkt des Turniers zu stellen und quasi drumherum noch viele Prüfungen bis zur Klasse S zu platzieren unterstreicht den integrativen Gedanken, den dieser Sport schon seit langer Zeit verfolgt. Der Dachverband, das Deutsche Kuratorium für Therapeutisches Reitern, hat mit diesem Sport die Möglichkeit, in der Öffentlichkeit bekannter zu werden und somit für alle Ber-eiche des Therapeutischen Reitens zu werben.

Der Co-Bundestrainer der Dressurreiter mit Handicap Dirk Mülot initiierte zusammen mit Herrn Hermann Erver, dem Vorsitzenden des RFZ Bochum-Nord diese integrative Deutsche Meisterschaft. Mit viel Liebe zum Detail, sehr viel Know How und Professionalität brachte Herr Erver mit seiner Mannschaft dann diese DM auf den Weg. Begleitet von viel Öffentlichkeitsarbeit haben die Dressurreiter mit Handicap hier eine Bühne gefunden, auf der sie hochkarätigen Sport vorstellen konnten. Jeder Reiter hat seinen eigenen Weg gefunden, mit seinem Handicap umzugehen. Trotzdem ist es viel leichter, wenn es Menschen wie Herrn Erver gibt, die ihnen uneigenützig den Weg ebnen.

Am Ende dieser Meisterschaft werden die fünf Reiter benannt, die Ende September zu den Weltreiterspielen nach Kentucky fliegen dürfen. Die Equipechefin Britta Bando, der Bundestrainer Bernhard Fliegl, der Co-Trainer Dirk Mülot, die Mannschaftsärztin Dr. Sabine Staemmler-Kienzle, die Mannschaftstierärztin Beradette Unküer und die Physiotherapeutin Anne-Catrin Thielen haben die letzten drei Tage genutzt und sich alle Ritte genaustens angeschaut. Sie griffen dem einen oder anderen Reiter in ihrer Funktion unter die Arme, waren immer offen für ein Feed-back und werden es sich ganz sicher nicht leicht machen, die Mannschaft zu benennen. Gilt es doch, zum allerersten Mal vollständig gleichberechtigt mit allen anderen Reitsportdisziplinen bei den Weltreiterspielen dabei sein zu können. Dies ist ein echter Meilenstein für den Sport, der nur möglich geworden ist, weil vorher viele kleinere Schritte gemacht wurden, wie z.B. die Ausrichtung dieses tollen Turniers.

Vielen Dank dafür von allen Reitern!